1. Theoretischer Rahmen
a. Besonderheiten von Familienunternehmen
Familienunternehmen zeichnen sich durch eine einzigartige Struktur aus, die der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Fritz B. Simon treffend beschrieben hat. Nach Simon werden in Familienunternehmen zwei grundsätzlich gegensätzliche Systeme miteinander gekoppelt:
- Die Familie: Dieses System ist gekennzeichnet durch die Unkündbarkeit von Beziehungen. Hier spielen Gefühle als verbindendes Element eine zentrale Rolle, und die Wichtigkeit der Person als solche steht im Vordergrund.
- Das Unternehmen: Im Gegensatz zur Familie ist dieses System charakterisiert durch die grundsätzliche Austauschbarkeit von Personen. Hier sind Verträge und Geld die verbindenden Elemente, und die Wichtigkeit der Person ergibt sich primär aus ihrer Funktion.
Diese Kopplung führt zu einer faszinierenden Dynamik, in der die Grenzen zwischen Arbeits- und Familienzeit oft verschwimmen. Das Unternehmen nimmt häufig einen ebenso wichtigen oder sogar größeren Platz ein als ein Familienmitglied. Diese enge Verflechtung hat zur Folge, dass Gefühle einen starken Einfluss auf Geschäftsentscheidungen haben.
Im Idealfall resultieren aus dieser besonderen Konstellation folgende Erfolgsfaktoren von Familienunternehmen:
i. Personenorientierung
In Familien steht die Person im Mittelpunkt, nicht ihre Funktion. In Familienunternehmen herrscht oft eine familiäre Atmosphäre und damit einher geht eine starke Personenorientierung, die zu einem echten Wettbewerbsvorteil werden kann: Sowohl die Mitarbeiter*innen als auch die Kund*innen und Geschäftspartner*innen fühlen sich hier eher als Person wahrgenommen. Dies steigert die Loyalität zum Unternehmen.
ii. Nichtaustauschbarkeit/persönliche Bindung
Das „Investment“ in emotionalen Beziehungen ist sehr viel langfristiger und nicht primär auf Rendite ausgelegt. „Wer einem seiner Angehörigen etwas Gutes tut, erwartet keine unmittelbare Bezahlung.“ Die gegenseitige Loyalität und Identifikation ist hoch, eine Tatsache die sich häufig auch auf die familienfremden Mitarbeiter*innen auswirkt und im Optimalfall zu hoher Leistungsbereitschaft führt, was wiederum auch ökonomisch schwierige Zeiten besser überstehen lässt.
iii. Teamorganisation
In Familienunternehmen gibt es meist eine hohe Rollenflexibilität, das heißt einzelne Personen sind bereit und in der Lage unterschiedliche Funktionen zu übernehmen. Simon beschreibt Teams als familienartige Einheiten, die in erfolgreichen Familienunternehmen die Langfristigkeit der Beziehungen mit einer hohen Rollenflexibilität kombinieren, das bringt Flexibilität, die wiederum Wettbewerbsvorteile verschaffen kann.
iv. Kapitalbindung
Der Planungshorizont von Familienunternehmer*innen spannt sich meist über mindestens eine Generation, ein Berufsleben hinweg, häufig bereits in die nächste Generation hinein und ist damit signifikant langfristiger, als dies in börsennotierten Unternehmen der Fall ist, in denen sich die Unternehmensleitung einer vierteljährigen Berichtspflicht gegenübersieht. Im Optimalfall führt dies zu ruhigeren, überlegteren Entscheidungen, die sich nicht einseitig an kurzfristiger Ertragsoptimierung orientieren.
Diese vier Faktoren können zu echten Wettbewerbsvorteilen führen. Sie fördern eine erhöhte Loyalität sowohl der Mitarbeiter*innen als auch der Kund*innen, ermöglichen eine größere Flexibilität in der Unternehmensführung und führen oft zu überlegteren, langfristigeren Entscheidungen.
Familienunternehmen sind historisch gesehen als „Männerbund“ konstituiert. Dies findet insbesondere seinen Ausdruck in der Regel, dass der erstgeborene Sohn das Unternehmen erbt und Geschäftsführer wird, die sogenannte „Primogenitur“. Diese Regel kann in unterschiedlicher Konsequenz Anwendung finden und ist in vielen Familienunternehmen unterschwellig noch wirksam.
So ist es auch kein Zufall, dass beide Protagonistinnen der Erfolgsgeschichten, die in diesem Artikel erzählt werden, keine älteren Brüder haben. Frauen kommen nach wie vor in der Unternehmensnachfolge vor allem dann vor, wenn die männliche Nachfolge, aus welchem Grund auch immer, nicht möglich ist.
Das ist aus verschiedenen Gründen bedauerlich:
- Die meisten Familienunternehmer wünschen sich eine familieninterne Nachfolge, warum also nicht an eine Tochter übergeben?
- Frauen sind heute genauso gut ausgebildet wie ihre Brüder.
- Es kann ein sehr erfüllender Lebensentwurf für Frauen sein, zur „F.U.N.“ zu werden.
- Häufig gestaltet sich ein Generationswechsel von Vater auf Tochter vergleichsweise reibungslos.
- Letzteres gelingt insbesondere dann, wenn die Tochter nicht nur über die nötigen Kompetenzen verfügt und vom Nachfolgeprojekt überzeugt ist, sondern auch eine sogenannte ‚Vatertochter‘ ist – also eine besonders enge Bindung zu ihrem Vater hat. „Vatertöchter neigen dazu, ihren Vater zu idealisieren und können umgekehrt mit einer ausgeprägten Wertschätzung seinerseits rechnen.“ Wesentlich ist auch zu beachten, dass das Prinzip der Primogenitur den Söhnen keineswegs nur Vorteile bringt, ganz im Gegenteil, können sie nicht „konfliktfrei die Geschäftsleitung verweigern“ und „patriarchal eingestellte Väter können ihren Töchtern leichter Individuation ermöglichen, als ihren Söhnen“. (Daser, Bettina / Rahn, Christina (2008) „Wenn die Tochter dem Patriarchen folgt“ In Strick, Sabine (Hrsg.): „Die Psyche des Patriarchen“, Frankfurt am Main: FAZ-Buch)
Als einen weiteren Faktor für erfolgreiche Nachfolge möchte ich die sogenannte Generativität benennen, d.h. dass die Beteiligten ein Interesse daran haben, Teil von etwas zu sein, das sie selbst überdauert.
„Generativität ist die Kraft, die allen menschlichen Formen der Reproduktion zugrunde liegt, von den biologischen hin zu den geistigen.“ (Kotre, John (2001): „Lebenslauf und Lebenskunst, Über den Umgang mit der eigenen Biographie“, München: Carl Hanser)
Kurz gesagt: Das Gefühl Teil von etwas zu sein, das größer ist als mein eigenes Leben.
b. Wirtschaftliche Bedeutung von Unternehmensnachfolgen in Frankreich und Deutschland
Folgende Statistiken der deutsch-französischen Handelskammer zeigen, dass die Unternehmensnachfolge in Frankreich ein bedeutendes Thema ist, mit einer großen Anzahl von Unternehmen, die in den kommenden Jahren betroffen sein werden:
- Jährlich sind in Frankreich etwa 60.000 Unternehmen von der Nachfolgeproblematik betroffen. Diese verteilen sich wie folgt:
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- 50.000 Unternehmen mit weniger als 10 Mitarbeitern
- 50.000 Unternehmen mit 10 bis 50 Mitarbeitern
- 50.000 Unternehmen mit über 50 Mitarbeitern
- Ein Drittel der Firmeneigentümer in Frankreich ist über 50 Jahre alt.
- In den nächsten 10 Jahren werden schätzungsweise 700.000 Unternehmen in Frankreich von der Nachfolgeproblematik betroffen sein.
- Im Jahr 2023 gab es in Frankreich rund 51.000 Unternehmensweitergaben. Dies entspricht jedoch nur 27% der 185.000 Firmen, die zur Nachfolge angeboten wurden.
- Im Gegensatz zu Deutschland, wo 54% der Unternehmen im Familienbesitz bleiben, werden in Frankreich 51% der Unternehmen an externe Investoren verkauft.
In Deutschland weist das Institut für Mittelstandsforschung folgende Zahlen aus:
- Für den Zeitraum 2022 bis 2026 wird erwartet, dass bei etwa 190.000 Unternehmen eine Nachfolge ansteht. Das entspricht durchschnittlich 38.000 Übergaben pro Jahr.
- Nach Branchen verteilen sich die Nachfolgen wie folgt:
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- Fast 50% im Bereich der unternehmensbezogenen Dienstleistungen
- Etwa 25% im produzierenden Gewerbe
- Der Rest verteilt sich auf andere Sektoren, wobei personenbezogene Dienstleistungen unterrepräsentiert sind
- Eine Studie der KfW prognostiziert, dass bis 2025 sogar 842.000 Inhaber mittelständischer Unternehmen ihre Tätigkeit aufgeben werden. Davon planen 61% eine Übergabe, während 300.000 mit einer Schließung rechnen.
- Laut einer Umfrage des ifo Instituts und der Stiftung Familienunternehmen steht bei 43% der Familienunternehmen in den nächsten drei Jahren eine Unternehmens- oder Anteilsübertragung an. Bei größeren Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern sind es sogar 50%.
- Die Nachfolgesituation wird durch verschiedene Faktoren erschwert:
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- 42% der befragten Unternehmen haben noch keinen Nachfolger aus der Familie
- Nur 34% der Familienunternehmen schaffen eine familieninterne Nachfolge
- Der demografische Wandel und das abnehmende Interesse am Unternehmertum in der jüngeren Generation verschärfen die Situation
Diese Zahlen verdeutlichen die große Herausforderung der Unternehmensnachfolge in Deutschland in den kommenden Jahren.
c. Familien-Unternehmenslandschaft im Vergleich
In beiden Ländern spielen Familienunternehmen eine zentrale Rolle in der Wirtschaft, jedoch gibt es einige bemerkenswerte Unterschiede:
- Größenverteilung: In Frankreich finden wir verhältnismäßig mehr sehr große Familienunternehmen als in Deutschland. Unternehmen wie LVMH (Louis Vuitton Moët Hennessy), L’Oréal oder Kering sind weltweit bekannte Marken und gleichzeitig Familienunternehmen. In Deutschland hingegen dominiert der Mittelstand, oft als „Rückgrat der deutschen Wirtschaft“ bezeichnet. Diese mittelständischen Unternehmen sind häufig Familienunternehmen, die in ihren jeweiligen Nischen Weltmarktführer sind, aber weniger im Rampenlicht stehen.
- Branchenfokus: Französische Familienunternehmen sind stark in den Bereichen Luxusgüter, Mode und Konsumgüter vertreten. Dies spiegelt die traditionelle Stärke Frankreichs in diesen Sektoren wider. Deutsche Familienunternehmen sind dagegen oft im produzierenden Gewerbe, im Maschinenbau und in technologieintensiven Branchen zu finden. Viele dieser Unternehmen sind sogenannte „Hidden Champions“ – Weltmarktführer in spezifischen Nischenmärkten, die der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt sind.
- Internationalisierung: Sowohl französische als auch deutsche Familienunternehmen sind stark international ausgerichtet. Allerdings gibt es Unterschiede in der Art der Internationalisierung. Französische Unternehmen tendieren dazu, durch Akquisitionen und den Aufbau globaler Marken zu expandieren, während deutsche Unternehmen oft organisches Wachstum und den Aufbau von Produktionsstätten im Ausland bevorzugen.
- Innovationskultur: Deutsche Familienunternehmen sind bekannt für ihre inkrementellen Innovationen – kontinuierliche Verbesserungen bestehender Produkte und Prozesse. Französische Unternehmen neigen dagegen häufiger zu disruptiven Innovationen und sind oft bereiter, in neue, unerprobte Geschäftsfelder vorzustoßen.
d. Vier Thesen über die Attraktivität des Lebensentwurfes „F.U.N.“
- Generativität wird als zutiefst sinnstiftend erlebt. Die Tatsache, in der Tradition einer Unternehmerfamilie zu stehen, an und in einem Unternehmen zu arbeiten, das von den Eltern, Großeltern oder vorherigen Generationen gegründet und aufgebaut wurde, gibt dem eigenen Leben und Wirken eine Richtung, einen tieferen Sinn und bringt häufig auch den Wunsch hervor, dies in die nächste Generation weiter zu tragen. Dies ist eine Evidenz, die sich nicht nur bei den erfolgreichen familieninternen Übergaben zeigt, sondern die mir gerade bei schwierigen, sowie bei gescheiterten Unternehmensnachfolgen begegnet ist. Wenn die Beziehungen innerhalb der Familie konfliktbeladen und schmerzhaft ausgestaltet waren und der unternehmerische Erfolg dennoch in die nächste Generation getragen wurde, ist die Tatsache in einem beruflich erfolgreichen Kontinuum zu stehen, manches Mal die zentrale positive Verbindung zur Vorgängergeneration.
- Für Frauen erkennen ganz besonders die Veränderungsmöglichkeit von Führungsstil und Unternehmenskultur, ohne sich dabei in kräftezehrenden Auseinandersetzungen mit männlichen Vorgesetzen aufreiben zu müssen. Das eigene Unternehmen bietet die Gelegenheit, männlich geprägte Macht- und Entscheidungsstrukturen auszuhebeln und die Art von Führungsstil und Unternehmenskultur zu etablieren, die frau gefällt. Sehr augenfällig ist dieser Aspekt in dem Fallbeispiel von Nicole, die eine moderne, partizipative Kultur entwickelt hat, in der es keinen Platz für „Männergehabe“ gibt. Auch Sophie hat massiv die Unternehmenskultur nach menschlichen Bedürfnissen ausgerichtet und punktet damit im Wettbewerb um Fachkräfte. Nachfolgerinnen bringen häufig genau die Führungsqualitäten mit, die heute zählen: kollaborativ, inklusiv und sinnorientiert. In einer Zeit, in der nachhaltiger Erfolg auf Teamgeist, Agilität und sozialer Verantwortung beruht, sind diese Kompetenzen gefragter denn je. Sie sind nicht ausschließlich weiblich – aber viele F.U.N.-Frauen leben sie mit besonderer Klarheit und Überzeugung.
- Zahlreiche F.U.N.-Frauen zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Fähigkeit aus, Modelle gemeinschaftlicher Führung zu etablieren, die sowohl Innovation als auch organisationale Resilienz begünstigen. Viele der U.N.-Frauen wählen das sogenannte Tandem als Übernahme- und Führungsstrategie. Sie führen also zunächst gemeinsam mit dem Übergeber (meist dem Vater) und später mit einem anderen Familienmitglied oder einer Fremdgeschäftsführer*in. Damit vermeiden sie nicht nur die berühmte Einsamkeit an der Spitze, sondern fördern auch die Widerstandskraft ihrer Unternehmen.
- Der Lebensentwurf „F.U.N.“ bietet die Möglichkeit beides zu vereinbaren Familie, eigene Kinder und eine verantwortungsvolle, herausfordernde Arbeit. Die besonders in Deutschland viel umstrittene Vereinbarkeit von Familie und Beruf findet in Familienunternehmen ihre ganz eigene Antwort. Natürlich kann auch die „F.U.N.“ -Frau keine Kinderbetreuungsplätze der öffentlichen Hand herzaubern. Aber sie kann sich anders organisieren. Sie ist freier in der Gestaltung und kann selbst bestimmen, wie sie ihr Arbeits- und Familienleben organisiert. Was es dazu braucht, ist in jedem Fall ein dickes Fell – so sagte eine gestandene Unternehmerin und Mutter: „Was ich am bittersten lernen musste, war Anfeindungen abprallen zu lassen und aufzuhören, mich zu erklären.“